Generation Clavigo (Auszug)
von Barbara Burkhardt
Theater heute Ausgabe Nr. 6, Juni 2012
(...) Auch Ana Zirner hat ihr Abschlussprojekt an der Essener Folkwang-Schule aus Gesprächen entwickelt, sich dafür allerdings sehr weit hinausgewagt aus den heimischen Wohnzimmern. 14 Tage lang hat sie im Iran Gespräche geführt, sie zusammenmontiert, dem Geschwisterpaar Bahar und Omid in den Mund gelegt und mit einfachsten Mitteln klug strukturiert auf die Bühne gebracht: Zu Beginn von „Frühling und Hoffnung“, wenn die iranischen Mittelschichtskinder von einer Kindheit sprechen, die einer europäischen zum Verwechseln ähnlich klingt, sitzen ihre Bühnen-Stellvertreter im Publikum, erzählen aber deutlich distanziert in der dritten Person vom älteren Bruder und der kleinen Schwester, die miteinander rivalisieren und einander zu Seite stehen; Schulanekdoten, die sich langsam zuspitzen ins Fremde, Gefährdete: Omid fliegt von der Schule, weil im Buch, das er verbrannte, ein Kinderstreich, ein Chomeini-Foto war.
Dann wird auf der Bühne ein Orientteppich ausgerollt; er wird das Gefängnis sein, in dem Omid einsitzt, das Gefängnis der verordneten Verschleierung für Bahar. Hier geraten die Geschwister lautstark aneinander über unterschiedliche Strategien des Widerstands: er ein romantischer Revolutonär, sie eine pragmatische Strategin, die ganz nebenbei ein Frauenbild aus beruflicher und familiärer Doppelbelastung und latenter Überforderung wie aus Berlin-Mitte transportiert. Dort auf dem Teppich, angekommen in der Fremdheit eines Zwangs-Systems, sprechen sie in der Ich-Form, aus weiter Ferne angekommen in ihren Figuren. Der iranische Jazzmusiker Amir Nasr spielt die Musik dazu, Video-Projektionen beschwören die Umbrüche von Occupy Wall Street bis Arabellion. Nur zum Untertitel Iran 2011 bleibt die Leinwand dunkel. Eine Leerstelle, die Zirners Arbeit unprätentiös und eindrucksvoll füllt. (...)
„Ich wollte einen Lupeneffekt haben“
von Lukas Wilhelmi
abgedruckt in der Festivalzeitung des KSJR 2012
2. April 2012
Als Ana Zirner über Klassikern der Theaterliteratur brütet, stellt sie fest, dass sie sich viel mehr für die Nachrichten auf Al Jazeera und die Ereignisse im mittleren Osten interessiert. Sie beginnt zu recherchieren, lernt Leute kennen, unter anderem den iranischen Jazzmusiker des späteren Projekts Amir Nasr, baut Kontakt in den Iran auf, fliegt nach Teheran und Isfahan, führt dort insgesamt 40 Stunden Interviews, kommt zurück nach Deutschland, übersetzt, konzentriert die anfänglichen 120 Seiten Stoff zusammen mit ihren Schauspielern auf 20. Die darauf basierende 70-minütige Aufführung FRÜHLING und HOFFNUNG =BAHAR und OMID ist sie nun in Hamburg zu Gast. Mit der Regisseurin sprach Lukas Wilhelmi.
Auf hohem Niveau (Auszug)
von Birgit Schmalmack
Godot - Das Hamburger Theatermagazin
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7.April 2012
(...) Für ihre Arbeit hat Ana Zirner von der Folkwangschule aus Essen im Iran zwei Wochen lang Interviews geführt und sie zu einer Geschichte konzentriert.
Bahar und Omid sind Geschwister, die sich gut verstehen. Eine alltägliche Geschichte, die zunächst in jedem Land stattfinden könnte. Doch sie wachsen in einem Land auf, in dem die freie Meinungsäußerung und die freie Ausübung der Religion verboten sind. Sie erleben die Wahlen 2009 und die anschließenden Demonstrationen. Omid wird verhaftet. 31 Tage wird er im Gefängnis verbringen. Berichten die beiden Schauspieler auf leerer Bühne zunächst in der neutralen dritten Person in großer Sachlichkeit von den beiden Geschwistern, werden Bahar und Omid ab diesem Zeitpunkt zu ihrem Ich. Ihr Ton verändert sich. Wut, Hoffnung, Entsetzen, Angst und Sehnsucht mischen sich in ihre Stimmen. Zum Schluss stehen sie beide auf dem ausgerollten Teppich und schreien sich ihre unterschiedlichen Lebenspositionen entgegen. Während die Revolutionsbilder des Jahres 2011 über die rückwärtige Leinwand laufen, bleiben die Bilder aus dem Iran schwarz. Nach 2009 sind die Aufstände erstickt.
Ana Zirner hat eine aufwühlende Arbeit abgeliefert, die gerade durch die sachliche Distanzierung betroffen macht. Sie lässt dem Zuschauer die Möglichkeit zur eigenen Positionierung. Eine in ihrer Schlichtheit und Konzentration höchst beeindruckende Inszenierung! (...)
JURYURTEIL beim „Körber Studio Junge Regie 2012“
Barbara Burckhardt (Theater heute)
5. April 2012
„Ich möchte etwas sagen zu „BAHAR und OMIR = FRÜHLING und HOFFNUNG“ von Ana Zirner. Das hat uns sehr gefallen, weil erstens fanden wir es sehr toll, dass sich da jemand selbst eines Themas bemächtigt, es sich selbst setzt, und dann für uns losfährt in eine uns ziemlich unbekannte Welt und dass er aus dieser unbekannten Welt uns etwas zurück bringt, was dann erstmal viel vertrauter ist, als wir es je für möglich gehalten hätten. Diese Kenntnisnahme einer bildungsbürgerlichen Mittelschicht im Iran von der wir nichts wissen, die uns selber ganz schön ähnlich ist, das wird sehr geschickt, mit sehr bescheiden, einfachen und klugen Mitteln thematisiert, indem, und das fand ich besonders raffiniert, am Anfang, wenn die Darsteller noch im Publikum sitzen, und die Dinge erzählt werden, die auch deutsche Kindheiten sein könnten, europäische Kindheiten, in der berichtenden Form erzählt wird. Wenn es ganz weit von uns weg rückt, nämlich auf den Teppich, der das Gefängnis ist, der auch das Gefängnis der Verschleierung ist, der der Iran ist, es also weiter weg geht, aber die Darsteller dürfen jetzt in die ich-Form, in das Spiel richtig hineingeraten. Diese widerstrebenden Bewegungen von sich annähern und sich entfernen, das reflektiert sehr klug unsere Unmöglichkeit aber auch unsere bitte notwendige Neugierde uns auch in diese Teile der Welt zu begeben.
Mich hat sehr gefreut, dass wir da auch mal ein bisschen wegkommen von einer Nabelschau, dass wir ganz woanders hingucken, dass wir das Thema Revolte und Aufstand was in diesem Festival mehrfach vorkam, hier mal nicht aus dieser merkwürdigen Sehnsucht „es muss irgendwas passieren, aber was bloss“ beschrieben, sondern aus einem wirklich außerordentlich Veränderungsbedürftigen und ganz anders bedrohtem Kosmos.
Sie merken, ich kann gar kein Aber sagen. Das Aber, das ich jetzt eigentlich sagen müsste, warum diese Inszenierung den Preis nicht gewinnen wird... also das einzige Aber ist, dass es noch 6 andere Inszenierungen gab, die auch sehr, sehr toll sind. Eine Wahl ist etwas Tolles, aber eine Wahl bedeutet immer auch eine Abwahl.“
Kritik: „FRÜHLING und HOFFNUNG = BAHAR und OMID“
von Michaela Neukirch
“junge regie textversion”, veröffentlicht im digger magazin
3. April 2012
In Ana Zirners politischem Dokumentationstheater begegnen sich Einblick und Ausblick ohne Voyeurismus.
Ein schwarzer Guckkasten, ein zupfender Gitarrist, eine rapide switchende Video-Projektion. Darin das bewegte Leben auf den Straßen, Juni 2011. Spain, Russia, Syria, Japan, USA, Yemen, Palestine, Tunesia, Germany! Die Bühne ist kahl und leer. Der iranische Musiker Amir Nasr erscheint einsam platziert in einem Leuchtschlauch aus Regenbogenfarben, in welchem er flirrende Aufbruchsklänge spielt. Auf der Wand sehen wir YouTube-Videos und verzerrte Handyaufnahmen. Das sind die Bilder, die um die Welt gingen. Das sind die Bilder, in denen es um die Welt geht: Junge Frauen in Tschadors sprechen aufgeregt in die Mikrofone der Reporter. Das wahnhaft grinsende Gesicht des Guy Fawkes lugt zwischen protestierenden Massen hervor, scheint überall zu sein. Dort: Arabischer Frühling, Arabellion, Revolution. Hier: ACTA, Anonymus, Occupy-Initiative. Die Forderungen der international Protestierenden sind ähnliche, wenn auch nicht die gleichen. Es geht um Redefreiheit, Mitspracherecht, Verantwortung in der Gesellschaft.